Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Raoul Zühlke

 

Andreas Fülberth: Riga. Kleine Geschichte der Stadt . Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 308 S., 39 Abb., 2 Ktn. = ISBN: 978-3-412-22165-2.

Die „kleine“ Geschichte Rigas versucht wie auch die anderen Werke dieser Reihe im Böhlau-Verlag den Spagat zwischen fachwissenschaftliche Präzision und populärwissenschaftlicher Darbietungsform. Ein toller Druck, eine hervorragende Abbildungsqualität sowie eine kluge, moderne Grundstruktur mit zahlreichen gut platzierten Exkursen kommen einer schnellen Erfassung entgegen. Der Autor, Andreas Fülberth, ist nicht nur auf dem Papier nahezu perfekt für dieses Projekt gewählt, hat er sich doch sowohl durch zahlreiche fachwissenschaftliche Veröffentlichungen zum Baltikum wie auch durch die Abfassung moderner Reiseliteratur zu Riga und Reval einen Namen gemacht.

Und so legt der Verfasser auch gleich fulminant los. Fülberth zeigt sich auch außerhalb seiner Forschungsgebiete, die in der Neuzeit zu finden sind, äußerst belesen, und er versteht es, den aktuellen Forschungsstand ebenso wie konkurrierende Meinungen in bemerkenswerter Klarheit und Kürze darzubieten. Fülberths Darstellung der mittelalterlichen Stadtgeschichte sind das Beste, was an Überblicksliteratur zum hochmittelalterlichen Riga seit Jahren veröffentlicht wurde. Darüber können auch kleinere Mankos – so fehlt im chronologisch nach der Entstehungszeit geordneten Abschnitt zu den Sakralbauten ausgerechnet der Dom – nicht hinwegtäuschen.

Bedauerlich ist aber, dass diese jedem Handbuch zur Ehre gereichende Analyse in eine populärwissenschaftliche Arbeit ohne Fußnoten, Belege oder den Namen verdienende Literaturhinweise und Anhänge verbannt ist. Der Verfasser nennt lediglich einige ältere Autoren; die Dynamik der Forschung der letzten 60 Jahre, deren Ergebnisse der Verfasser abgesehen vom etwas stiefmütterlich behandelten Komplex „Riga als Hansestadt“ präzise wiedergibt, bleibt so einigermaßen im Dunkeln. Daher sollten Autor und Verlag ernsthaft prüfen, ob es nicht die Möglichkeit gibt, diesen Teil noch einmal wissenschaftlich aufbereitet zu veröffentlichen. Dies wäre ein großer Gewinn für die rigische Stadtgeschichte.

Ebenso gelungen wie der Einstieg sind die letzten Kapitel. Die Gegenwart wird in historischer Wahrnehmungsschärfe analysiert. Lesenswert und mit klarer Position bringt Fülberth die Zeitgeschichte an den Leser. Man merkt, dass der Verfasser intensiv selbst vor Ort das Gespräch gesucht hat, Zeitzeugen kennt und – Dank seiner umfassenden Sprachkenntnisse – neben der deutschsprachigen Literatur mindestens auch die lettische, russische, estnische und natürlich auch englischsprachige Forschung rezipiert hat.

Sicher, je nach Blickwinkel würde man sich den einen oder anderen Aspekt intensiver thematisiert wünschen. Aus Sicht des Rezensenten wäre hier beispielsweise der überbordende lettische Nationalismus und die teilweise doch bemerkenswerte Diskriminierung von Bevölkerungsminderheiten – seien es Undeutsche im Mittelalter, Baltendeutsche in der Zwischenkriegszeit oder russischstämmige Letten seit den frühen 1990ern – stärker zu gewichten gewesen. Auch das Fehlen eines professionellen Senkrechtluftbildes ist m.E. schwer zu erklären. Aber der begrenzte Umfang einer solchen Publikation erzwingt Schwerpunktsetzungen, die man in diesen Abschnitten auch nachvollziehen kann. Daher wäre ein Leser, der nur das erste und das letzte Viertel des Buches liest, zu Recht begeistert.

Leider kann der Mittelteil des Buches nicht in dem Maße überzeugen. Dies liegt keinesfalls daran, dass die Themen nicht spannend wären. Aber einige konzeptionelle Entscheidungen sind ursächlich dafür, dass hier statt Leselust oft eher Lesefrust aufkommt. So werden beispielsweise alle Personen, die im eigentlichen Sinn mit der Geschichte Rigas bzw. des Baltikums zu tun haben, bei der ersten Nennung mit biographischen Angaben in Klammern versehen. Bei der Vielzahl der Personen, die genannt werden, verkommen manche Seiten zu einem Klammerfestival. Verstärkt werden solche Lesehemmer durch die stets zweisprachige Angabe von Straßen- und Ortsbezeichnungen. Sicherlich mag es auf den ersten Blick angenehm wirken, wenn man eine Seite aufschlägt und unmittelbar alle Informationen parat hat. Will man das Buch aber kontinuierlich lesen, stören diese Einschübe massiv – viel mehr übrigens als ein paar aussagekräftige Fußnoten. Ein gutes Register wäre für all diese Angaben allemal die beste Lösung gewesen.

Ebenso quälend ist vor allem in den Teilen zum 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert die Detailversessenheit, die der Autor der Baugeschichte Rigas entgegenbringt. Ausgerechnet in den Teilen, von denen man besonders viel erwartet, weil Fülberth in diesen Feldern anerkannter Experte ist, sind unübersehbare Schwächen. Sicher ist auch dieser Teil informativ, aber er fällt im Vergleich erheblich ab. Das in Stein gemeißelte Riga wird einem viel intensiver vorgeführt als die Politik- und Sozialgeschichte, und das, obwohl Fülberth es sehr wohl versteht, lebhafte Eindrücke in politische Abläufe und das Alltagsleben gleichermaßen zu geben. Aber er nutzt diese Fähigkeit zu selten. Die lettischen Schützen etwa, die nicht nur bzgl. der Erinnerungskultur in Riga schwer zu überschätzen sind, werden in einem Nebensatz abgehandelt. Faschistische und kommunistische Gräueltaten werden zwar faktisch präzise, aber wenig empathisch dargestellt. Baugeschichtliche Veränderungen bei Denkmälern, Parks und weniger relevanten Gebäuden und Straßenverläufen werden stattdessen seitenweise ausgebreitet. Für einen Reiseführer mag das angehen, für eine Stadtgeschichte ist das m. E. nicht immer der richtige Zugang. Es ist aber offensichtlich, dass es Fülberth, der über herausragende topographische Kenntnisse verfügt und gerade zum Themenfeld der Bau- und Architekturgeschichte geforscht hat, schwer fällt, Relevantes von weniger Relevantem zu trennen.

Darüber hinaus haben im Mittelteil des Buches Fragen der Schwerpunktsetzung größeres Gewicht: Die Abschnitte über das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit (polnische und schwedische Herrschaft) sind sehr kurz geraten. Der im Quellenbestand viel prägnanteren Zeit des Spätmittelalters wird beispielsweise weniger Platz eingeräumt als dem Hochmittelalter. Sicher, für das Spätmittelalter kann man – anders als für das quellenarme Hochmittelalter – nicht auf jüngere, gute Darstellungen zurückgreifen, die eine Zusammenfassung erleichtern. Aber rechtfertigt das kommentarlos die Abhandlung des Spätmittelalters auf nur acht Seiten? Auch Fragen zur Identität werden zumindest systematisch nicht angegangen. Bei einer so multiethnischen Stadt wie dem Riga der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wäre dies aber zwingend gewesen. Sahen oder sehen sich in Riga lebende „(Balten-)Deutsche“, „Russen“, „Letten“ oder „Juden“ – die von Fülberth selten nach ihrer Herkunft differenziert betrachtet werden – eigentlich in erster Linie als Rigenser? Oder verstanden sie sich doch vor allem „ihrer“ „Volksgruppe“ zugehörig? Was veranlasste z. B. die ihrer Deportation ins Auge sehenden Baltendeutschen selbst im Herbst 1944 noch in Riga zu bleiben? Solche Fragen nach Identität sind mehr als nur Randfragen. Deren Lösung muss man in einer „kleinen“ Stadtgeschichte nicht erwarten, aber angesprochen werden müsste so ein Thema schon.

Insgesamt ist das Buch aber trotz der Kritik inhaltlich zuverlässig, präzise und – abgesehen vom fehlenden wissenschaftlichen Apparat – auf hohem wissenschaftlichem Niveau. Verlag und Lektorat müssen sich aber vorhalten lassen, dass ihr Konzept gerade auch für ein populärwissenschaftliches Werk, welches ja über den reinen Wissenserwerb hinaus Verwendung finden soll, in einzelnen Punkten überarbeitet werden sollte.

Raoul Zühlke, Neuss

Zitierweise: Raoul Zühlke über: Andreas Fülberth: Riga. Kleine Geschichte der Stadt . Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 308 S., 39 Abb., 2 Ktn. = ISBN: 978-3-412-22165-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Zuehlke_Fuelberth_ Riga_ Kleine_Geschichte_ der_Stadt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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